KASPAR VON GREYERZ Die Schweiz während des Dreißigjährigen Krieges* |
I. Einleitung
Eine Ausnahme stellten innerhalb dieses geographischen Rahmens lediglich die Drei Bünde (heute: Graubünden) im Osten und Südosten des Landes dar sowie bis zu einem gewissen Grade das Untertanengebiet des Fürstbischofs von Basel im Jura. Dieser Reichsfürst war - ähnlich wie die Stadt Genf - nur mit einzelnen Orten der Eidgenossenschaft verbündet. Die Eidgenossenschaft war ein kompliziertes Bündnisgeflecht mit einem einzigen, durch die konfessionellen Gegensätze geschwächten, zentralen Organ, der zu Baden nach Bedarf zusammentretenden Tagsatzung, deren Entscheide auf freier Übereinkunft der an Weisungen gebundenen Abgeordneten beruhten. [3]
Die weitgehende Verschonung der Schweiz hatte (neben geographischen) in erster Linie politische Gründe, hatte sich doch die Eidgenossenschaft seit dem Schwabenkrieg von 1499 sukzessive vom Reich und seinen Institutionen, wenn noch nicht rechtlich, so doch faktisch losgelöst.
II. Soziale und wirtschaftliche Aspekte
Zwar blieb die Schweiz auch während des Krieges auf Salzlieferungen aus der Freigrafschaft Burgund, Tirol und Bayern angewiesen, andererseits wurde sie in bezug auf die Ausfuhr von Vieh, Käse und Futtermitteln "von Aufkäufern deutscher Fürsten und Heerführer geradezu überlaufen". [8] Die anhaltende Nachfrage hatte eine Preissteigerung zur Folge. Als sie gegen Ende des Krieges nachzulassen begann, bewirkte dies einen gewaltigen Preissturz. Die Agrarpreise sanken zwischen 1642 und dem Ende der 1640er Jahre durchschnittlich um mindestens die Hälfte. [9]
Diese Entwicklung brachte - gepaart mit einer spürbaren Geldverknappung, bedingt durch das Ansteigen der Löhne und des Preises gewerblicher Produkte - soziale und politische Spannungen mit sich, die in den vierziger Jahren des 17. Jahrhunderts durch die Fiskalpolitik der Städte in ihren ländlichen Herrschaftsgebieten noch verstärkt wurden. Als die Berner Regierung Anfang 1641 beschloß, die Landbevölkerung mit einer neuen Wehrsteuer zu belasten, kam es im Berner Oberland zu offenem Widerstand. [10] Nach mehreren Vermittlungsversuchen der anderen evangelischen Orte der Eidgenossenschaft konnte schließlich im Juni desselben Jahres eine Übereinkunft zwischen Untertanen und Obrigkeit erreicht werden. Die Steuer blieb; der Berner Rat mußte sich jedoch zu einer Amnestie bereitfinden.
In der freiburgischen Landvogtei Bellegarde brachen bereits sechs Jahre früher Unruhen aus, als die Regierung sich anschickte, die Erhöhung der Einkünfte des Landvogts auf die Untertanen abzuwälzen. Der Widerstand wurde mit harter Hand unterdrückt. [11] Weder hier noch im zürcherischen Herrschaftsgebiet sollte der Widerstand - im Unterschied zu Bern [12] - im Zuge des Bauernkriegs von 1653 erneut aufflammen. Im zürcherischen Bereich ging dem Aufstand von 1646 gegen die bereits 1628 eingeführte Kriegssteuer in der Herrschaft Wädenswil und im Knonauer Amt, der zu Hinrichtungen, empfindlichen Bußen und dem Verlust politischer Freiheiten der Wädenswiler Untertanen führte, ein glimpflicher abgelaufener Widerstandsakt (1644/45) in der Grafschaft Kyburg voraus. [13] Auch im baslerischen Herrschaftbereich erzeugte die bereits 1627 eingeführte Kriegssteuer bei den ländlichen Untertanen viel Unmut. [14]
Dieser verbreitete Unmut wurde zur Unruhe und schließlich zur offenen Revolte und zum "Bauernkrieg", als die bernische und, in ihrem Schlepptau, die luzernische Obrigkeit eine Münzabwertung durchführten, deren Kosten sie (insbesondere in Luzern) weitgehend auf die ländlichen Untertanen abwälzten. [15] Der offene Aufstand brach Anfang Februar 1653 im luzernischen Entlebuch aus. In einem bemerkenswerten Zürcher Schreiben vom 19. April 1653 wurde festgehalten, "daß sich in dieser zeyt vast ein durchgehende revolution mehrteils eydtgnössischer underthanen erzeigt [...]". [16] Tatsächlich weitete sich die Revolte zu einer Bewegung aus, die schließlich auch bernische, solothurnische und baslerische Untertanen in ihren Bann zu ziehen vermochte. Am 14. Mai beschworen die Aufständischen in Huttwil einen in seiner Zielrichtung revolutionären Untertanenbund, der sich als Alternativbündnis offen gegen den eidgenössischen Bund der Herren wandte. [17] Die Antwort darauf war ein erfolgreicher militärischer Gegenschlag der betroffenen städtischen Obrigkeiten, dessen entscheidende Operationen Anfang Juni 1653 erfolgten, sowie eine harte Strafjustiz und Repression gegenüber den Besiegten. Auf der Seite der städtischen Obrigkeiten bewirkte das einschneidende Ereignis insofern einen Kurswechsel, als sie sich - insbesondere der Luzerner Rat - hinfort stärker einer paternalistischen Politik gegenüber ihren Untertanen zuzuwenden begannen. [18]
Unruhen und offener kollektiver Protest blieben jedoch bis ans Ende des schweizerischen ancien régime (1798) ein verbreitetes Mittel der politischen Auseinandersetzung. [19] Daran waren nicht zuletzt die starken Oligarchisierungstendenzen des politischen Systems nicht nur der Städte, sondern auch der Landkantone (besonders deutlich in Schwyz und Appenzell-Außerrhoden) ursächlich beteiligt. Die Ursachen dieser Tendenzen wiederum sind vor allem im wachsenden Bevölkerungsdruck und der damit unmittelbar verbundenen Verknappung der sozio-politischen Ressourcen zu suchen [20], wobei allerdings auch die mit dem Ausbau des frühneuzeitlichen Staates verbundenen, steigenden Anforderungen an die Ausbildung, Erfahrung und Abkömmlichkeit der Regierenden mit eine Rolle spielten. Innerhalb der politischen Führungsschicht Genfs und Zürichs hatte diese Situation bereits im Zuge des 17. Jahrhunderts die Praxis der Geburtenkontrolle zur Folge. [21]
III. Konfessions- und Soldbündnispolitik
Bereits 1531, mit der militärischen Niederlage der evangelischen Städte, ging in der Eidgenossenschaft die Reformation in die Phase der Konfessionalisierung über. Nur noch an der Peripherie des helvetischen Bündnisgeflechts (Waadt, Neuenburg, Genf, Pruntrut/Porrentruy, Wallis und Graubünden) vermochte sie sich danach noch weiter auszudehnen. Doch nachdem die Gegenreformation von den 1570er/80er Jahren an mit kirchlichen Visitationen, der Errichtung von Kollegien und Klöstern der Jesuiten und Kapuziner und einer ständigen Nuntiatur in Luzern (1586) auch in der Schweiz wirksam wurde, wurde die Unterdrückung des Protestantismus im Fürstbistum Basel und im Wallis in die Wege geleitet. [23] In Graubünden gelangte die weitere Verbreitung des reformierten Bekenntnisses an der Wende zum 17. Jahrhundert zum Stillstand. [24]
In den Gemeinen Herrschaften [25], insbesondere im Thurgau, wurde der Bi-Konfessionalismus zu einer geradezu permanenten Reibungsfläche zwischen den reformierten und katholischen Orten der Eidgenossenschaft. Zwar sollte der Erfolg der konfessionellen Uniformierungsbemühungen von Staat und Kirche auf der Alltagsebene auch hier nicht überschätzt werden. [26] Immerhin hat Eduard Bloesch seinerzeit - mit Blick auf die Zeit nach der Mitte des 17. Jahrhunderts - nicht zu Unrecht darauf hingewiesen, daß die "Volkstümlichkeit der [reformierten] Kirche und ihr nachhaltiges Wirken auf die Gemüter" durch die geschlossene Parteinahme der Landpfarrer für ihre Obrigkeiten im Bauernkrieg von 1653 "schwer geschädigt" worden sei. [27] Dagegen waren die erwähnten Reibungstendenzen auf der Ebene der schweizerischen Politik um so gefährlicher, als die Gemeinen Herrschaften so etwas wie den "eigentliche(n) Kitt [darstellten], der die alte Eidgenossenschaft nach der konfessionellen Spaltung zusammenhielt." [28] Als zusätzlicher Risikofaktor gesellte sich seit den siebziger Jahren des 16. Jahrhunderts die in wachsendem Maße konfessionalistische Ausrichtung der Bündnispolitik der beiden konfessionellen Parteien hinzu.
Im Jahre 1577 äußerte sich dies zunächst einmal - vor dem Hintergrund der Religionskriege in Frankreich - in einem militärischen Schutz- und Schirmbündnis der katholischen Orte Uri, Schwyz, Unterwalden, Luzern und Freiburg mit dem Herzogtum Savoyen, wodurch sich diese indirekt nicht nur für die durch Savoyen schon lange angestrebte Unterwerfung Genfs, sondern auch gegen die Westpolitik Berns engagierten. [29] Als Reaktion darauf entstand zwei Jahre später ein Schutzbündnis von Frankreich, Bern und Solothurn zugunsten Genfs, 1584 abgelöst durch ein dauerhafteres Schutzbündnis der Städte Bern und Zürich mit Genf. Daß das katholische Solothurn vorübergehend aus der konfessionellen Solidarität ausbrach, hing vor allem mit dem französischen Einfluß auf die Außenpolitik dieser Stadt zusammen, war sie doch seit 1530 Sitz des französischen Ambassadors, und in zweiter Linie auch mit ihrer gezwungenermaßen vorsichtigen Politik als unmittelbarer Nachbarin des mächtigen, reformierten Bern. [30]
1579 schlossen die katholischen Orte außerdem ein Bündnis mit dem Basler Fürstbischof Jakob Christoph Blarer von Wartensee, der seit seiner Wahl (1575) mit Nachdruck den Wiederaufbau seines heruntergekommenen Bistums betrieb. [31] Diese Anstrengungen richteten sich gegen den konfessionellen Einfluß Berns im Südjura, insbesondere jedoch gegen die konfessionellen und herrschaftlichen Einflußversuche der reformierten Stadt Basel im Nordosten des Fürstbistums. In diesem, durch den Vertrag von 1585 zwischen Stadt und Bischof beendeten Streit erhielt letzterer durch die katholischen Orte wichtige Unterstützung und Rückendeckung. [32]
Die weitere Entwicklung des Kriegsgeschehens in Frankreich bewirkte in den frühen achtziger Jahren des 16. Jahrhunderts unter den katholischen Orten eine Distanzierung gegenüber der Politik der französischen Krone und eine stärkere Anlehnung an die dezidiert katholische Politik Philipps II. von Spanien. Vor diesem Hintergrund entstand Anfang Oktober 1586 der Goldene Bund (später auch Borromäischer Bund genannt) als Sonderbündnis der sieben katholischen Orte zur Erhaltung des katholischen Glaubens und am 12. Mai 1587 eine Allianz der fünf, später sechs (inklusive Freiburg, jedoch ohne Solothurn) katholischen Orte mit Spanien, welche u.a. Bestimmungen zum gegenseitigen militärischen Schutz, zum spanischen Durchmarschrecht und zur Werbung von Soldtruppen in der Eidgenossenschaft enthielt. [33] Stellt man dieses (1604 noch erweiterte) spanische Bündnis, welches bis weit in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges hinein Bestand haben sollte, in Bezug zu der 1602 erneuerten alten Soldallianz mit Frankreich [34], so wird deutlich, in welchem Maße die Schweiz an der Wende zum 17. Jahrhundert in den Bannkreis der epochalen Auseinandersetzung zwischen Frankreich und Habsburg hineingeraten war. Daß das Frankreich Ludwigs XIII. eine in konfessioneller Hinsicht letztlich flexiblere Politik als Spanien betrieb, ist in der Rückschau als Glücksfall für die Schweiz zu bezeichnen, denn dadurch konnte in der Außenpolitik der eidgenössischen Orte und ihrer Zugewandten keine längerfristige Einheit von Konfessions- und Soldbündnispolitik entstehen, wenngleich freilich zu fragen ist, ob sich eine derartige Einheit angesichts der wichtigen wirtschaftlichen Aspekte des Soldunternehmertums überhaupt hätte herstellen lassen. [35] Ihre zersetzende Wirkung wäre nicht ausgeblieben, wie der Appenzeller Ausnahmefall zeigt, wo es 1597 aus konfessionellen Gründen zur Kantonsteilung kam. Der Beitritt des katholischen Kantonsteils zum spanischen Bündnis hatte dabei eine Auslöserfunktion. [36]
Verunsichert angesichts der vorübergehenden Annäherung des französischen Hofes gegenüber Spanien im Anschluß an die Ermordung Heinrichs IV., schlossen Bern und Zürich 1612 mit dem Markgrafen von Baden ein Schutzbündnis und 1615 ein ebensolches mit der Republik Venedig. Das Bündnis mit dem Markgrafen war glücklicherweise befristet, so daß die beiden Städte - und mit ihnen die übrige Schweiz - im darauffolgenden Jahrzehnt nicht in den Strudel des süddeutschen Kriegsgeschehens gerieten. Avancen der protestantischen Union gegenüber den reformierten Städten der Eidgenossenschaft mit dem Ziel eines Schutzbündnisses vermochten letztere jedoch zu widerstehen, und zwar mit dem Hinweis, daß ein Anschluß an die protestantische Union ihren Bündnisverpflichtungen gegenüber den katholischen Orten der Eidgenossenschaft widersprechen würde. [37] Sie übten sich also in dieser Situation in einer Politik des "Stillesitzens", der Neutralität.
Die sich im Zuge des 16. und 17. Jahrhunderts allmähliche herausbildende schweizerische Neutralitätspolitik hat keine einheitlichen Wurzeln. Einen Ursprung hat man verschiedentlich im Rückzug aus der Mächtepolitik der 1510er und 1520er Jahre erblicken wollen. [38] Dagegen ist nicht zu Unrecht eingewendet worden, die Eidgenossen hätten die lange Dauer und damit die längerfristige Tragweite des Ewigen Friedens von 1516 und des Soldbündnisses mit Frankreich von 1521 damals noch in gar keiner Weise abschätzen können. [39] Unzweifelhaft scheint mir jedoch, daß die konfessionelle Frontbildung, wie sie der Zweite Kappeler Landfrieden von 1531 bestätigt und verstärkt hat, auf beiden Seiten der konfessionellen Trennlinie das Gebot des "Stillesitzens" im Interesse des Zusammenhalts des eidgenössischen Bündnisgeflechts erheblich aufwertete. [40] Entsprechend gefährlich war die Relativierung des Neutralitätsprinzips, wie sie in den frühen 1630er Jahren von einem Kreis reformierter Politiker ausging. In einer dialogförmigen Flugschrift des pfälzischen Pamphletisten Johann Philipp Spieß geißelt einer der beiden Gesprächspartner die Neutralität als nicht bibelkonform und ruft aus: "Was die abscheuliche Neutralität betrifft, so wird wahrlich kein Mensch, der seiner fünf Sinne mächtig ist, uns raten, daß wir bei einer solch allgemeinen religiösen Auseinandersetzung neutral oder keinem Teil zugetan und nur tatenlose Zuschauer sein sollen." [41]
Hintergrund dieser radikalen Infragestellung des "Stillesitzens" war ein formeller Bündnisantrag des Schwedenkönigs Gustav Adolf an die eidgenössische Tagsatzung, der erwartungsgemäß von den katholischen Orten abgelehnt, von den vier evangelischen Städten Zürich, Bern, Basel und Schaffhausen jedoch erst nach längeren Erwägungen und Geheimverhandlungen verworfen wurde. [42] Nicht nur der schwedische Sondergesandte, Ritter Kristoffer Ludwig Rasche, scheute keine Anstrengung, für das schwedische Bündnis zu werben; auch Englands Abgesandter Oliver Fleming trat bei den reformierten Orten dafür ein - letztlich vergeblich. [43] Am meisten Gehör fanden diese beiden Diplomaten in Zürich im Kreise um den einflußreichen Zürcher Kirchenvorsteher Johann Jakob Breitinger und Bürgermeister Heinrich Bräm. Dieser Kreis war eine eigentliche Kriegspartei, die meinte, mit dem Erscheinen Gustav Adolfs in Deutschlands und schwedischer Truppen an der Schweizer Nordgrenze sei die Möglichkeit der großen Abrechnung mit den Katholiken in und außerhalb der Schweiz gekommen. Der pfälzische Pamphletist Johann Philipp Spieß ist mit seiner vehementen Neutralitätskritik diesem Kreis zuzurechnen.
Daß diese Gruppe sich in den kritischen Jahren 1631-1634 nicht durchzusetzen vermochte, lag nicht zuletzt an der entsprechenden Zurückhaltung führender Politiker der anderen evangelischen Städte, insbesondere Basels. Kein Zufall, daß der Basler Johann Rudolf Wettstein die offizielle Antwort der Tagsatzung zu redigieren hatte, als der schwedische Sondergesandte Rasche ultimativ die Unterbindung spanischer Durchmärsche durch das Gebiet der Eidgenossenschaft zu erzwingen versuchte. Sie geriet zu einer "förmlichen Neutralitätserklärung". [44] Ähnlich wirkte sich die vereinte Basler und Schaffhauser Politik auch in der wohl kritischsten Phase der Schweizer Geschichte dieser Zeit aus, als es 1633 im Zusammenhang mit der Belagerung von Konstanz zu schwedischen Grenzverletzungen im Thurgau kam, die beträchtliche Spannungen zwischen der katholischen Innerschweiz und den reformierten Orten, insbesondere Zürich, zur Folge hatten, und vorübergehend zur akuten Gefahr nicht nur eines konfessionellen Bürgerkrieges, sondern auch des Übergreifens des deutschen Kriegsgeschehens auf die Schweiz führten. [45] Das konfessionelle Klima jener Jahre wurde durch die Auswirkungen des kaiserlichen Restitutionsedikts von 1629 in der Gemeinen Herrschaft Thurgau noch zusätzlich vergiftet. [46] Sowohl die reformierten Städte als auch die katholischen Orte trafen damals Vorbereitungen zum Krieg gegen den konfessionellen Gegner. [47]
Basel und Schaffhausen waren nicht allein durch ihre Grenzlage zu einer vorsichtigen Haltung in Fragen der Bündnis- und Kriegspolitik gedrängt. Die vermittelnde Rolle, die sie in den 1630er Jahren spielten, entsprach auch dem in ihren Bundesverträgen von 1501 besonders erwähnten Vermittlungsauftrag.
Kein Zufall also, daß gegen Ende des Dreißigjährigen Krieges die diplomatische Initiative um Aufnahme der Eidgenossenschaft in das westfälische Friedenswerk und um Bestätigung der Exemtion der eidgenössischen Orte von den Institutionen des Reichs von Basel ausging. Der unmittelbare Anlaß dazu war, daß das Reichskammergericht in zwei Rechtsfällen Handelsgüter aus der Rheinstadt innerhalb des Reichs mit Arrest belegte, weil die Basler Prozeßparteien die Vorladung mißachtet hatten. [48] Rechtlich war die Sache unklar, weil Basel (neben Schaffhausen und Appenzell) erst nach dem Basler Frieden, der 1499 die Exemtion der Eidgenossen vom Reichskammergericht bestätigte, in die Eidgenossenschaft aufgenommen worden war. Trotz des Desinteresses der katholischen Orte hielten die evangelischen Orte - die vier reformierten Städte sowie Appenzell-Außerrhoden und der reformierte Teil des Kantons Glarus - an einer diplomatischen Mission nach Münster und Osnabrück fest, mit der sie die Stadt Basel beauftragten, die diese verantwortungsvolle Aufgabe wiederum in die Hände des Bürgermeisters Johann Rudolf Wettstein legte. Die Mission Wettsteins ist Gegenstand eines anderen Beitrages in diesem Band. [49] Sie endete überaus erfolgreich mit der völkerrechtlichen Bestätigung der Unabhängigkeit Basels und der übrigen Orte der Eidgenossenschaft vom Reich und seinen Institutionen. [50]
IV. Ein- und Auswirkungen des Krieges
Die Frage der außenpolitischen Orientierung trug das Ihre zur politischen Destabilisierung im Innern bei. 1602 ließen sich die Drei Bünde in das erneuerte französische Soldbündnis mit der Eidgenossenschaft aufnehmen, welches Frankreich nun (neben Spanien) das nach 1620 wichtige Durchmarschrecht sicherte. Ein Jahr später entschieden sie sich außerdem, gegen den Widerstand Frankreichs und Spaniens, für ein Bündnis mit Venedig. Daraufhin ließ der spanische Gouverneur von Mailand jedoch als Retorsionsmaßnahme eine große Festung am Eingang zum Veltlin an der Straße nach Chiavenna bauen, die nicht nur die venezianischen Handelswege unterbrach, sondern die Drei Bünde als Herren über das Veltlin direkt bedrohte. [54]
Die führenden Familien spielten zunehmend die Rolle von brokers - sowohl im ideologischen wie im materiellen Sinne - Frankreichs, Habsburgs und Venedigs. Diese Mächte bekundeten alle, freilich aus verschiedenen Motiven, ein vitales Interesse an der Kontrolle der bündnerischen Pässe.
Der politische Kampf zwischen den führenden Familien verbunden mit der Frage nach der außenpolitischen Orientierung der Drei Bünde vermischte sich auf schier unentwirrbare Weise sowohl mit Auseinandersetzungen zwischen einzelnen Gemeinden als auch mit dem kommunalen Widerstand gegen die "großen Hansen" im Jahr 1607, in welchem Graubünden durch innere Unruhen bisher unbekannten Ausmaßes zerrissen wurde. [55] In dieser Situation wurden die reformierten Prädikanten - unter ihnen sollte vor allem Georg Jenatsch in den kommenden Jahrzehnten eine prominente Rolle spielen - zu politischen Meinungsmachern und Anführern. Das venezianische Bündnis wurde 1613 nicht erneuert, die spanische Partei witterte Morgenluft, die "venezianisch" orientierten Gegner rüsteten auf. Mit dem Strafgericht von Thusis von 1618/1619, welches letztere über ihre "hispanischen" Gegner verhängten, war der weitere Lauf der Dinge gewissermaßen vorgezeichnet. [56] Graubünden wurde während zweier Jahrzehnte zum Spielball der Mächtepolitik, wobei im folgenden aus Raumgründen nicht im einzelnen auf die verschiedenen Phasen des Konflikts eingegangen werden kann. [57]
Den Anfang der sogenannten Bündner Wirren machte der Veltliner Mord vom Juli 1620, hauptsächlich ausgelöst durch das Strafgericht von Thusis, ein Aufstand gegen die bündnerische Herrschaft, welchem der größte Teil der reformierten Minderheit im Veltlin zum Opfer fiel. Unmittelbarer Profiteur war Spanien-Mailand, welches das Veltlin militärisch besetzte. [58] Dreimal, zwischen 1620 und 1631, wurden die Drei Bünde durch habsburgische Truppen überschwemmt, gefolgt von Kapuzinern, die sich der Rekatholisierung reformierter Gemeinden annahmen, und von der Pest, die die Soldaten ins Land brachten. Dazwischen gelang es 1625 mit französischer Hilfe das Veltlin zurückzuerobern.
Erst nach 1631 wurde das militärische Engagement Frankreichs unter der Führung des hugenottischen Herzogs von Rohan nachhaltiger. Ihm gelang 1635 die Wiedereroberung des Veltlins. Doch hatte Richelieu in der neuen mächtepolitischen Situation nach der Niederlage der Schweden bei Nördlingen (1634) kein entschiedenes Interesse, die Kontrolle über das Veltlin und die Bündner Pässe an die Bündner Magnatenfamilien zurückzugeben, deren vorrangiges Ziel es seit 1620 war, ihr einträgliches Untertanengebiet wieder zurückzugewinnen. Es kam daher 1637 zu einem von Jenatsch u.a. mit habsburgischem Wissen orchestrierten, erfolgreichen Aufstand gegen die französische Besatzungsmacht, die 1637 Graubünden verlassen mußte.
Der inzwischen zum Katholizismus konvertierte Georg Jenatsch, der nach diesem erneuten Umschwung die Drei Bünde politisch dominierte, wurde Ende Januar 1639 von Gegnern ermordet. Im Herbst desselben Jahres kam in Mailand ein Ewiger Friede mit Spanien zustande. Durch das damit verbundene Mailänder Kapitulat wurde den Drei Bünden das Veltlin zurückerstattet, jedoch nur unter der Maßgabe, daß die reformierte Konfession sich dort nicht wieder festsetzen dürfe und unter dem Vorbehalt eines gewissen spanischen Aufsichtsrechts über die Verwaltung dieses Untertanengebiets. Eine vertragliche Verständigung mit dem Haus Österreich wurde erst zwei Jahre später erreicht. Sie ermöglichte in den Jahren 1647-1652 den Auskauf der in acht Gerichten und im Unterengadin verbliebenen hochgerichtlichen Rechte der Habsburger. [59] Damit war die Unabhängigkeit der Drei Bünde endgültig gesichert.
Zu schwereren Grenzverletzungen außerhalb des Gebiets der Drei Bünde kam es 1633 und 1638. Die erste vom September 1633 hat bereits Erwähnung gefunden: Schwedische Truppen überschritten bei Stein am Rhein und Gottlieben den Rhein und belagerten daraufhin während mehrerer Wochen von der Thurgauer Seite her vergeblich die Stadt Konstanz. Dieser Vorgang mit seinen Folgen führte die Eidgenossenschaft an den Rand des Krieges. Als Herzog Bernhard von Sachsen-Weimar im Januar 1638 vom Bistum Basel aus durch stadtbaslerisches Gebiet ins vorderösterreichische Fricktal vordrang und die vier Waldstädte eroberte, wurde dies "als eine fast ebenso starke Neutralitätsverletzung empfunden wie fünf Jahre früher der Marsch des schwedischen Generals Horn durch den Thurgau nach Konstanz." [60] Die Tagsatzung reagierte zum ersten Mal mit dem einhelligen Beschluß, derartige Durchzüge in Zukunft mit Gewalt verhindern zu wollen. Die Idee der bewaffneten Neutralität begann sich durchzusetzen. Erste Ansätze zu einer gesamteidgenössischen militärischen Grenzschutzorganisation wurden 1647 vor dem Hintergrund eines letzten schwedischen Vorstoßes bis an den Bodensee im sogenannten Defensionale von Wil geschaffen.
Zwar profitierte die Schweizer Agrarwirtschaft aufs Ganze gesehen vom Dreißigjährigen Krieg, doch darf, wenn von den Auswirkungen des Krieges in der Schweiz die Rede ist, auch nicht übersehen werden, daß die kriegsbedingte Versorgungspolitik vor allem die Grenzstädte Basel und Schaffhausen insbesondere hinsichtlich der Getreide- und Salzversorgung in manche Nöte stürzte. [61]
Gleichzeitig hatte die Bevölkerung vor allem der Städte immer wieder Flüchtlinge aus dem Kriegsgebiet zu versorgen. In Basel fanden gut situierte Glaubensflüchtlinge aus Colmar und Markirch (Sainte-Marie-aux-Mines) sowie Flüchtlinge aus der Pfalz Aufnahme, daneben aber auch - besonders in den 1630er Jahren - flüchtige Landbevölkerung aus den benachbarten Gegenden der Markgrafschaft und des Sundgaus. [62] Eine Reihe vertriebener elsässischer und pfälzischer Pfarrer fand in reformierten Kantonen einen neuen Tätigkeitsbereich. [63] In Zürich kamen neben Vertriebenen aus der Pfalz und Süddeutschland von den frühen 1620er Jahren an auch regelmäßig Dutzende von Flüchtlingen aus dem Veltlin und den Drei Bünden hinzu. Nach der Schlacht bei Nördlingen 1634 waren es vorübergehend 700 bis 800 Flüchtlinge, eine Zahl, die rund ein Zehntel der gesamten Stadtbevölkerung Zürichs ausmachte. [64]
Man wird also nicht behaupten können, daß die Schweizer als müßige Betrachter der Tragödie Deutschlands von dort bloß allen Reichtum an sich gezogen hätten, wie dies 1648 ein Zeitgenosse behauptete. [65] Aber wenn wir von dem schlimmen Kriegsschicksal Graubündens einmal absehen, waren die Kriegsjahre wohl für die meisten Schweizerinnen und Schweizer mit nur wenig Unannehmlichkeiten verbunden, für manche aber mit beruflichem oder geschäftlichem Gewinn. Der ideelle Gewinn an konfessioneller Toleranzfähigkeit, der sich den schweizerischen spectatores tragoediae Germaniae hätte aufzwängen können, blieb freilich gering: Im Unterschied zum Reich fand in der Schweiz der letzte Konfessionskrieg erst im Jahre 1712 statt.
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